Schlimmer geht (theoretisch) immer: das Stagflationsszenario
Im Falle einer Stagflation würden Fed und EZB mit sehr deutlichen Leitzinserhöhungen reagieren. Die Renditen würden ebenso wie Euro-Dollar zulegen.
An den Finanzmärkten und in Analystenkommentaren trat das „Stagflationsgespenst“ zuletzt häufiger in Erscheinung. Hintergrund ist vor allem die Kombination aus anhaltend hohen Inflationsraten und der wirtschaftlichen Unsicherheit bzw. Belastung, die mit dem Krieg in der Ukraine einhergeht. So nachvollziehbar diese Sorge auch sein mag, wir gehen aktuell davon aus, dass der Preisdruck in der zweiten Hälfte dieses Jahres zurückgeht, während das Wachstum in der EWU spürbar anziehen und in den USA robust bleiben sollte.
Und dennoch: Das im historischen Vergleich aktuell vorherrschende hohe Maß an Unsicherheit und die jüngsten Erfahrungen mit der Inflationsentwicklung machen es notwendig, sich mit dem derzeit lediglich hypothetischen Szenario einer Stagflation zu befassen. Dies gilt insbesondere für die Auswirkungen, die eine Kombination aus anhaltend hohen Inflationsraten und sehr niedrigem Wachstum auf die Geldpolitik sowie die Finanzmärkte hätte.
Die jüngsten Sitzungen von Federal Open Market Committee und EZB-Rat haben unsere Einschätzung gestärkt, dass die Währungshüter mit restriktiven geldpolitischen Schritten gegen einen hohen Preisdruck vorgehen werden. Eine Inflationsrate, die wie von uns im Stagflationsszenario unterstellt für einen Zeitraum von zwei oder mehr Jahren auf dem aktuell hohen Niveau verharrt, könnten weder Fed noch EZB hinnehmen. Zu groß wäre wohl die Sorge, dass die längerfristigen Inflationserwartungen ihre Verankerung verlieren. Weder die Tatsache, dass der Ursprung des hohen Preisdrucks von exogenen Faktoren geprägt ist, noch ein anämisches Wirtschaftswachstum sollten hieran etwas ändern können.
Die Konsequenz für den Euroraum wäre ein deutlich früher einsetzender und entschiedener durchgeführter Leitzinserhöhungszyklus als in unserem Hauptszenario unterstellt. In den USA sollte das Zinsniveau rascher und weiter nach oben geschleust werden. Die zehnjährigen US-Staatsanleiherenditen würden unter den unterstellten Vorgaben auf bis zu 5% steigen, während entsprechende Bundesanleihen bei 3,5% rentieren sollten. Am Devisenmarkt mag der Euro im direkten Vergleich mit dem US-Dollar zwar zunächst das Nachsehen haben. Angesichts eines zu erwartenden überzeugenden Kursschwenks vonseiten der EZB hin zur entschlossenen Inflationsbekämpferin sollte der Euro aber über kurz oder lang klar die Nase vorn haben.
-- Birgit Henseler, Dorothea Huttanus, Sören Hettler