Neue EU-Defizitverfahren: Alles Schall und Rauch

Die EU-Kommission schlägt die Eröffnung neuer Defizitverfahren vor, unter anderem gegen Frankreich und Italien. Harte Reformauflagen oder Sanktionen müssen Paris und Rom aber nicht fürchten. Entsprechend gelassen reagieren die Märkte. 
 


Die EU-Kommission hat angekündigt, dem Ministerrat (ECOFIN) die Eröffnung eines Defizitverfahrens (excessive deficit procedure / EDP) gegen insgesamt sieben EU-Staaten (darunter Frankreich und Italien) vorzuschlagen. Die Initiative basiert auf der Wiederinkraftsetzung des kürzlich überarbeiteten Stabilitäts- und Wachstumspakts, nachdem die alten Regeln nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie bis Ende 2023 außer Kraft gesetzt wurden. Was zunächst so aussieht, als wolle die EU-Kommission Defizitsünder wieder härter an die Kandare nehmen, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als politischer Aktionismus.

 

Zum einen ist ein wesentliches Element der Defizitverfahren nach den neuen Regeln, dass es individuelle nationale Pläne zum Schuldenabbau einschließlich der notwendigen Reformmaßnahmen (medium-term fiscal structural plans / MTFSP) gibt, die von den betroffenen Staaten umgesetzt werden müssen. Derzeit gibt es allerdings noch keine neuen MTFSP, da diese erst im kommenden Herbst im Rahmen der Vorlage der neuen mittelfristigen Finanzplanungen, die die Staaten jedes Jahr bis Mitte Oktober in Brüssel einreichen müssen, vorgelegt werden sollen. Im Klartext bedeutet dies, dass die EU den betreffenden Staaten zwar medienwirksam die gelbe Karte zeigt, konkrete Maßnahmen oder Sanktionen aber kurzfristig nicht folgen werden. Zum anderen stellt die Kommission klar, dass die neuen Defizitverfahren nur wegen Verstößen gegen die Defizitregeln, nicht aber wegen zu hoher Schuldenstände eingeleitet werden, weshalb beispielsweise Griechenland nicht Teil des Verfahrens sein wird. Umgekehrt werden die neuen Regeln zum Schuldenabbau von 0,5% des BIP pro Jahr bei einer Schuldenquote zwischen 60% und 90% und 1% des BIP bei einer Schuldenquote von mehr als 90% zunächst nicht greifen. Ob das Verfahren ausgeweitet wird und zu einem späteren Zeitpunkt auch überhöhte Schuldenstände berücksichtigt werden, ist derzeit völlig offen. 

 

Die neuen Defizitverfahren halten also nicht das, was man von ihnen erwarten könnte: eine konsequente und zügige Anwendung der neuen Schuldenregeln. Vielmehr ist zu erwarten, dass die Staaten im Herbst von der Kommission ihre nationalen Pläne für Reformmaßnahmen erhalten und bis zu sieben Jahre Zeit haben, diese umzusetzen. Es dürfte den meisten Staaten nicht schwer fallen, diese sehr niedrige Hürde ohne größere Anstrengungen zu nehmen. Und genau dies dürfte auch im Sinne der Kommission oder zumindest von EU-Kommissar Gentiloni sein, der eine Rückkehr zur Austerität bereits öffentlich und ausdrücklich ausgeschlossen hat. Kein Wunder also, dass die Nachricht über die neuen Defizitverfahren an den Finanzmärkten ein Non-Event war. Das heißt aber nicht, dass sich die Investoren keine Sorgen um die Schuldenentwicklung in der EU machen. Sollten die Schuldenquoten in Frankreich und Italien aufgrund mangelnder Sparanstrengungen und steigender Ausgaben für den Schuldendienst weiter steigen, werden die Finanzminister nicht nur die EU, sondern auch die Investoren von der langfristigen Schuldentragfähigkeit ihrer Staatsfinanzen überzeugen müssen. Der Markt könnte dabei weniger gnädig sein als Brüssel.

 -- Daniel Lenz