EZB-Leitzinswende: Weitere vorsichtige Lockerungen voraus

EZB vollzieht geldpolitische Wende und senkt Leitzins um 25 Bp. auf 3,75% (Einlagesatz). Es gibt durchaus Kritik am Zeitpunkt der Zinswende.
 


Die Währungshüter haben ihren Worten Taten folgen lassen und heute die Leitzinswende vollzogen. Angesichts der anhaltend hohen Inflation, des teils kräftigen Lohnwachstums und der zuletzt wieder anziehenden Nachfrage ist die jüngste Zinssenkung der EZB allerdings nicht gänzlich ohne Kritik zu sehen. Wir rechnen in den kommenden Monaten nicht mit einem aggressiven Zinssenkungskurs. So betrachten wir die Inflation als noch nicht besiegt. Rückschläge bei der Annäherung an die Zielmarke von 2% müssen weiterhin einkalkuliert werden. Besonderes Augenmerk richten die Notenbank-Oberen in diesem Zusammenhang auf die Lohnentwicklung im Euroraum. Ein ausgeprägter Lohndruck könnte vor allem die Preise im Dienstleistungssektor nach oben treiben. Vor diesem Hintergrund dürfte die EZB den weiteren Lockerungspfad mit Vorsicht beschreiten. Dies spiegelt sich auch in der Aussage Lagardes wider, wonach die weitere Adjustierung des geldpolitischen Kurses in Abhängigkeit der Datenlage erfolgt. Wir erwarten eine weitere Lockerung der Zinszügel im September und Dezember. Zum Jahresende dürfte der Einlagensatz dann bei 3,25 % liegen. Die Marktakteure scheinen etwas enttäuscht, dass sich die EZB nicht klarer hinsichtlich der Ausgestaltung des weiteren Zinssenkungspfads positioniert hat. Im Umfeld der Zinsentscheidung hat der Bund-Future Kursverluste verbuchen müssen.

 

Im Rahmen der heutigen Sitzung wurden auch die überarbeiteten Projektionen zur Konjunktur- und Inflationsentwicklung vorgestellt. Bemerkenswert ist vor allem, dass die Mitarbeiter des Eurosystems die Inflationsaussichten etwas skeptischer beurteilen. So wird nicht mehr davon ausgegangen, dass das Inflationsziel von 2% im kommenden Jahr erreicht werden kann. Die Inflationsprojektion für das Gesamtjahr 2025 wurde auf 2,2% von zuvor 2,0% angehoben. Über alle Zeithorizonte hinweg deuten die Inflationsprojektionen jedoch weiterhin auf einen allmählichen Disinflationsprozess hin. Die Projektion für den Zeithorizont 2026 wurde mit 1,9% bestätigt. EZB-Chefin Lagarde wies im Rahmen der Pressekonferenz darauf hin, dass der Inflationspfad in den kommenden Monaten durchaus holprig verlaufen dürfte. Ein Unsicherheitsfaktor sei unter anderem die Lohnentwicklung im Euroraum. Zuletzt war die Lohndruck überraschend deutlich ausgefallen. So sind die Tariflöhne im ersten Quartal um 4,7% (J/J) angestiegen. Die überarbeiteten Wachstumsprojektionen gehen von einer etwas dynamischeren Konjunkturentwicklung im Euroraum aus. Unter dem Eindruck eines robusten ersten Quartals wurde die Wachstumsaussicht für das laufende Jahr auf 0,9% von zuvor 0,6% nach oben revidiert. Für das kommende Jahr rechnen die Experten des Eurosystems mit einer moderaten Wachstumsbeschleunigung.

 

Im Rahmen der Pressekonferenz wurde die heutige Entscheidung, die Leitzinsen zu senken, kritisiert. Eine Lockerung der Zinszügel bei gleichzeitiger Aufwärtsrevision der Inflationsprojektionen erscheint widersprüchlich. Notenbankchefin Lagarde verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass die Währungshüter in den vergangenen Wochen Zuversicht darüber gewonnen haben, dass sich der Disinflationsprozess in der Eurozone weiter fortsetzen wird. Zugleich räumte sie aber auch ein, dass in den kommenden Monaten temporär mit einer nochmals steigenden Teuerung gerechnet werden muss.

 

Vor diesem Hintergrund werde die Notenbank weiterhin in Abhängigkeit der Datenlage über den weiteren Zinssenkungspfad entscheiden. Man wolle sich nicht bereits jetzt festlegen. In diesem Zusammenhang wollte Lagarde auch nicht die Zinssenkungserwartungen des Marktes kommentieren. „Markets do what markets have to do“, so Lagarde.

 

-- Christian Reicherter