Zinsprognose: Seiltanz der Notenbanken

Sowohl die EZB als auch die Fed werden die Leitzinsen nicht mehr in Jumbo-Schritten anheben, sondern zunächst „nur noch“ um 50 Basispunkte. Insgesamt erwarten wir in den kommenden Monaten noch kumulierte Zinsanhebungen der EZB um 100 Basispunkte.

 

Die Notenbanken weltweit vollführen derzeit einen gefährlichen Seiltanz. Vor dem Hintergrund der hohen Inflationsrate werden die Währungshüter nicht müde zu betonen, die Leitzinsen anheben zu wollen. Die bis zuletzt robuste wirtschaftliche Entwicklung und die überaus gute Lage am Arbeitsmarkt haben diese geldpolitische Ausrichtung erlaubt. Nun mehren sich aber die Anzeichen einer wirtschaftlichen Schwäche. Diesem Dilemma Rechnung tragend, haben sowohl die Fed- und die EZB-Notenbanker zuletzt angekündigt, das Tempo der geldpolitischen Straffung zu reduzieren.

 

Ähnlich wie in den Vereinigten Staaten dürften die europäischen Geldpolitiker daher im Dezember eine Leitzinsanhebung von „nur“ 50 Basispunkten vornehmen. Für die ersten beiden EZB-Ratssitzungen im kommenden Jahr erwarten wir jeweils eine Anhebung der Leitzinsen um 25 Basispunkte. Der Einlagesatz würde damit im Februar auf 2,25% und im März auf 2,50% steigen. Bei diesem Niveau sollte die Terminal-Rate, also das Ende des Leitzinserhöhungszyklus, erreicht sein.

 

Unseres Erachtens geben die Fundamentaldaten eine Beendigung der geldpolitischen Straffung im ersten Quartal 2023 her. So dürfte die europäische Wirtschaft im laufenden vierten Quartal in eine recht kräftige Rezession eintreten. Dieser konjunkturelle Abschwung beschleunigt sich bis ins erste Quartal 2023 hinein. Bei der Entwicklung der Inflationsrate scheint die Eurozone jedoch den Vereinigten Staaten hinterherzuhinken. Während die US-Inflationsrate ihren Zenit schon überschritten hat, ist die gesamteuropäische Inflationsrate bis zuletzt gestiegen. Erst in den kommenden Monaten sollte sich ebenfalls hier eine moderate Abschwächung zeigen.

 

Für eine Einstellung des Zinserhöhungszyklus spricht nicht zuletzt die Bilanzverkürzung der EZB. So dürfte angesichts der veränderten Bedingungen für die TLTROs III Liquidität gegen Ende des Jahres an die Notenbank zurückfließen. Auf der Ratssitzung im Dezember könnte die EZB außerdem einen ersten Anhaltspunkt liefern, wie und wann sie ihre Bestände an Staatsanleihen, die sie im Rahmen des APP gekauft hat, reduzieren will. Die stark nachlassende Wachstumsdynamik, moderat niedrigere Inflationsraten und die Bilanzverkürzung sind für uns zusammenfassend Argumente für eine Beendigung der Zinsanhebungen ab dem ersten Quartal. Bleibt die Inflation wider Erwarten und trotz des sich abzeichnenden konjunkturellen Abschwungs (zu) hoch, hätten die Notenbanken die Möglichkeit, den Zinserhöhungszyklus später im Jahr 2023 wieder aufzunehmen.

 

-- Birgit Henseler


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